Studium der Volkswirschaftslehre an der
Freien Universität Berlin 1975 bis 1981
"Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch `was lernen muss." (Wilhelm Busch)
Nachdem ich schon im Mai 1975 nach Berlin gekommen war, tat ich wahrlich einen Luftsprung, als mich die Nachricht von der Annahme für ein Studium an der Freien Universität Berlin erreichte. Nur ungern hätte ich Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin studiert. Deren Gebäude befindet sich zwar in der City, ist aber hässlich und überlaufen. Ein VWL-Studium an der FU hingegen bedeutete: kleine überschaubare Einheiten im Grünen, teilweise an Instituten, die sich in hübschen Dahlemer Villen eingenistet haben. Irgendwie also: Luft zum Atmen und freien Denken.
Und das war dann auch so.
Eigentlich hätte ich ja lieber Jura und Volkswirtschaftsehre nebeneinander studiert, um später „Wirtschaftsjurist“ zu werden. Doch die Studienberatung hatte mir abgeraten – dies sei zu viel auf einmal. Im volkswirtschaftlichen Studium gebe es auch eine juristische Prüfung, während umgekehrt bei den Juristen kein zusätzliches Wirtschaftsmodul vorgesehen sie. Damit war die Entscheidung klar.
Ein wenig habe ich sie später bereut. Die Juristerei liegt mir.
Da stehe ich nun also Anfang Oktober im Foyer des „WiWi“-Gebäudes in der Garystraße 21 und schaue fragend verloren auf das Schwarze Brett mit den Seminarankündigungen, als sich mir ein frisch aus Marburg von „Architektur und Kunstgeschichte“ nach Berlin „Volkswirtschaft“ gewechselter Kommilitone mit ebensolcher Unsicherheit, wo es denn jetzt langgeht, anschließt: Bertram Dervenich.
Bis zum letzten Prüfungstag haben wir die meisten Lehrveranstaltungen gemeinsam besucht und über alle Inhalte intensiv miteinander diskutiert. Bis heute sind wir gute Freunde.
Wenig später erweitert sich unsere Zweiergruppe um Oswald und Regina zu einem festen Studienkollektiv. Schnell ist unsere Truppe am Fachbereich „bekannt wie ein bunter Hund“. Gemeinsam gelingt vieles, was ein einzelner nicht schaffen würde: Bertram, Oswald und ich finden beim DIW Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung für mehrere Monate Beschäftigung als Werkstudenten. Für mich heißt das: empirische Berechnungen im Bereich Konjunkturforschung vornehmen, Abteilung Wohnungsbau. Was ich dort bei Abteilungsleiter Bernd Bartholmai lerne https://www.amazon.com/regionaler-Wohnungsmarktmodelle-Wohnungsmarktanalyse-Sonderheft-Wirtschaftsforschung/dp/3428051548 , legt den Grundstein für meine spätere Diplomarbeit über „Wohnen in Berlin“ und fundierte Kenntnisse des Wohnungsmarktes sowie der Bau- und Immobilienwirtschaft.
Im Grundstudium stehen die damals aktuellen Kontroversen zwischen Monetarismus und Keynesianismus im Vordergrund. Für beide Ansichten unterrichten an der FU herausragende Ökonomen: Manfred M. Neumann († 9. Juli 2016) galt bis in die jüngste Zeit als DER deutsche Monetarist schlechthin: https://de.wikipedia.org/wiki/Manfred_J._M._Neumann
Der keynesianischen Sichtweise eher, wenngleich kritisch zugeneigt, ist Prof. Dr. Hajo Riese, in der Nachfolge des renommierten Carl Föhl Leiter des Instituts für Theorie der Wirtschaftspolitik.
https://www.metropolis-verlag.de/Grundlegungen-eines-monetaeren-Keynesianismus/359/book.do
Rieses Interpretation von Keynes kreist um die „Liquiditätspräferenz“ von Unternehmen. Später in meinem Berufsleben – beim Asset-Management für den Knowledge One Funds Nordinvest und dann selbst als Unternehmer, erfahre ich ganz praktisch, dass jederzeitige „Liquidität“ die Kernaufgabe der Unternehmensführung ist.
Riese ermuntert seine Studenten, Keynes im englischen Original zu lesen. Weil die deutsche Übersetzung von Keynes Hauptwerk -1936 im germanizistischen Nazi-Deutschland verfasst – erkennbare Mängel aufweist, bewirbt sich unser Studienkollektiv beim Verlag Duncker & Humblodt mit Unterstützung von Professor Riese um eine Neuübersetzung (mehr Infos).
Aus Rieses Buch „Wohlfahrt und Wirtschaftspolitik. Reinbek, 1975“ behalte ich vor allem einen Lehrsatz in Erinnerung, der mich seither bei der Sicht auf den EURO begleitet: „Die Existenz eines Wechselkurses (d.h. einer gemeinsamen Währung, L.H.) definiert ökonomisch die Nation.“
Wer als Ökonom bei Neumann und Riese gelernt hat, kann kein Anhänger einer reinen „Nachfragepolitik“ zur Konjunktursteuerung sein.
Finanziell bin ich auf BAFöG angewiesen. Aber meine Eltern können als Künstler ihre wechselnden Einkünften mitunter nur schwer belegen und selten zeitnah die erforderlichen Antragsunterlagen beisteuern. Entsprechend spät erfolgen die Bewilligungen, wenn überhaupt. Ich muss also neben dem Studium arbeiten. Die Beschäftigung beim DIW macht mir deutlich, dass die Welt der Zahlen nicht so sehr „mein Ding“ ist. Ich will das reale Wirtschaftsleben möglichst umfassend und hautnah kennenlernen. Eine Initiativbewerbung bei der Wirtschaftsredaktion des Sender Freies Berlin hat Erfolg. Nach einer dreimonatigen Hospitation beschäftigt man mich als Freien Mitarbeiter weiter. Feldreportagen z. B. über das Thema Schwarzarbeit – das im Studium noch nicht einmal als Stichwort vorkommt – werden meine Spezialität. Daneben mausere ich mich Schritt für Schritt zum Experten für Wohnungsmarkt und Mietrecht. (Hat also doch etwas genützt, das Interesse für Jura.)
Die Nebenarbeit macht es mir oft unmöglich, viele Seminare selbst zu besuchen. Ohne die Unterstützung meines Studienkollektivs hätte ich das Studium daher nicht bewältigt: Meine Kommilitonen bringen mir zuverlässig Mitschriften mit und sind bereit, sich auch spät abends noch mit mir zur Diskussion des Lehrstoffs zu treffen.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft veröffentlicht 1976 eine Analyse, wonach im Gefolge der DM-Aufwertungen nach dem Ende des Bretton Woods-System (1971-73 schrittweise Aufgabe der Golddeckung des Dollars) innerhalb weniger Jahre rund 800.000 deutsche Arbeitsplätze verloren gingen. Uhren-, Foto-, Chemie-, Textil- und Bekleidungsindustrien waren nach Asien abgewandert. Es ist der Beginn einer langanhaltenden strukturellen Arbeitslosigkeit, gleichzeitig auch der Beginn meines Interesses für Strukturpolitik und Globalisierung.
Seit 1973 sinken übrigens auch die Kapitalmarktzinsen, bis sie beginnend in 2016 sogar zum Negativzins werden.
Ein mehrtägiges Seminar der Studentenorganisation AISEC 1978 in Budapest – Ungarn ist Mitglied des RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe der kommunistischen Länder - führt zu einer Überraschung: Der ungarische Zentralbankpräsident referiert und wiederholt dabei nahezu gleichlautend die Kieler Thesen von Währungseffekten, Produktzyklen und der Notwendigkeit von Innovationen.
So kommt im Jahr 1978 ein Tag, an dem Bertram, Oswald und ich, alle zuvor stolze Vollbartträger mit wildem Haar, jeder für sich und ohne Absprache untereinander, plötzlich glattrasiert und gut frisiert an die Uni fahren. Gemeinsam spüren wir, dass wir die Gedankenwelt der meisten Kommilitonen, die sich bei linken Gruppen, den Bhagwan-Jüngern oder jüngst den Spontis tummeln, weit hinter uns gelassen haben.
Kurze Zeit darauf bringt Oswald ein neues Buch mit: Rudolf Bahro, „DIE ALTERNATIVE“.
Ähnlich wie Wolf Biermann wird Rudolf Bahro in jenen Wochen aus der DDR ausgebürgert. Bahros Analyse über den „asiatischen Charakter“ der Sowjetunion und die Nachwirkungen des preußischen Absolutismus in der der DDR sind der theoretische Sargnagel für den SED-Kommunismus. Die linke Szene Westberlins gerät in gärende Auflösung.
An der FU beginnt für uns etwa zeitgleich das Hauptstudium, unter anderem mit Vorlesungen über die Geschichte der Wirtschaftstheorie. Selten wird dies in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen heute noch angeboten. Assistent Jens Johler – aus ihm wird später ein gefeierter Schriftsteller - https://de.wikipedia.org/wiki/Jens_Johler legt eine grandiose zusammenfassende Interpretation von Adam Smith`s „Wohlstand der Nationen“ und dessen eigentlichem Hauptwerk „Theorie der ethischen Gefühle“ vor. Dieses Manuskript hat Jens Johler nie veröffentlicht, sondern nur in unserem Seminar verteilt. Dieses Text ist meines Erachtens das Beste, was man über Adam Smith lesen kann, um den Beginn der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft zu verstehen. Auf meine Anfrage hat Jens Johler mir freundlicherweise im Juni 2020 eine leicht überarbeitete Fassung überlassen mit der Freigabe, dass ich seinen Aufsatz "Adam Smith als Philosoph" an dieser Stelle als Scan bereitstellen darf. Ich bedanke mich dafür sehr herzlich und empfehle den Text jedem, der sich für die Wirtschaftswissenschaften interessiert,
Über den Kursus der Theorien kommen wir schließlich wieder bei Keynes und modernen Wachstumstheorien an. Längst aber nimmt das Selbststudium, geleitet von eigenen Interessen und Fragestellungen, einen immer breiteren Raum ein. Angeregt von Bahros Theorie vertiefe ich mich in wirtschaftshistorische Abhandlungen über den Absolutismus oder Karl Wittfogels monumentales Werk „Über die orientalische Despotie“. In der späteren Diplomprüfung wird der Professor für Wirtschaftspolitik meine Thesen hierzu mit einem spitzen Schrei quittieren, der mir noch heute in den Ohren hallt: „Was ? Ägyptische Wasserwirtschaft!!! Wieso???“
Regina hatte unser Studienkollektiv inzwischen verlassen, um der Liebe wegen Berlin zu verlassen. An ihrer Statt gesellen sich die bolivianische Kommilitonin Yvonne und der Freiburger BWLer Hartmut zu unserer Gruppe. Natürlich stehen jetzt auch die harten Wissensfächer an: Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht, Öffentliches Recht, Betriebswirtschaftslehre, Finanzwissenschaft. Im Freiburger Elternhaus von Hartmut bereiten wir uns in einer längeren Klausur gemeinsam auf diese Prüfungen vor, die wir alle mit guten Noten abschließen.
Was noch zu tun bleibt, sind die Diplomarbeiten. Jetzt geht jeder aus unserer Gruppe mehr oder weniger seiner Wege. Meine Arbeit „Zur Wohnungsfrage in Berlin – Soll die Mietpreisbindung für Berliner Altbauten aufgehoben werden?“ wird zu einer doppelten Herausforderung. Die erste Hälfte beinhaltet eine geschichtliche Darstellung über Berlin und den preußischen Staat, in die viele meiner inzwischen gewonnenen historischen Kenntnisse einfließen. Die eigentlich zu beantwortende Frage jedoch versperrt sich einer Antwort. Fachspezifische Literatur zur Immobilienbranche ist damals kaum zu finden. Die Wirtschaftstheorien zum Charakter der Miete widersprechen sich: Grundrente oder Zins? „Die Nuss ist härter als ich dachte,“ muss ich erkennen. Am Ende finde ich zu einer Antwort, die auch für die heutige Diskussion über „Mietendeckel“ Relevanz hat: „Es kommt für die Lösung der Wohnungsfrage auf einen energischen Neubau an, - aber nicht allein darauf. Die neu gebauten Wohnungen müssen zudem auch unbedingt preisgünstiger als die jeweils vorherigen Jahrgänge auf den Markt kommen, sonst scheitern alle Maßnahmen zur Mietenbegrenzung auch im Altbaubestand. Wird eine solche Politik verfolgt, sind Mietendeckel andererseits auch nicht erforderlich.“
Ausgehend von dieser Erkenntnis werde ich in späteren Jahren in der Hamburger Vereins- und Westbank zahlreiche PR-Aktionen und Diskussionsrunden zum Thema preiswertes Bauen durchführen. In der politischen Realität kommt das Thema jedoch bis heute nicht wirklich voran.
Und was wurde aus unserer Studiengruppe?
Im Abstand von etwa zehn Jahren treffen wir uns an verschiedenen Orten in Deutschland zu einem gemeinsamen Wochenende. Bisher standen Jena, Bamberg, Dresden und Freiburg auf dem Programm. Demnächst soll es Eisenach werden. Zu allen bestehen jedenfalls auch "zwischendurch" noch Kontakte in unterschiedlicher Intensität.
Es ist ein großes Geschenk, Freunde zu haben, deren Denken und Wissen so eng mit dem eigenen verbunden ist.
Und nach dem Studium?
Bitte besuchen Sie diese Seite bald wieder. wenn Sie wissen möchten, wie es beruflich für mich weiterging. Ich bemühe mich, meine Erfahrungen so aufzubereiten, dass daraus keine Selbstbespiegelung wird, sondern nützliche Erkenntnisse für die heutige Zeit abzuleiten. Vielen Dank für ihr Interesse!